Wachsende Herausforderungen im Schweizer Gesundheitswesen und deren Bewältigung

Value Based Healthcare

Das Schweizer Gesundheitssystem, bekannt für seine Qualität und Zugänglichkeit, steht vor grossen Herausforderungen, die seine Nachhaltigkeit bedrohen. Gemäss der gesundheitspolitischen Strategie 2020-2030 des Bundesrates (BAG, 2019) gehören dazu steigende Kosten, die Prävalenz nicht übertragbarer Krankheiten oder der Vorrang der Akutversorgung vor der Prävention. Zusätzlich stehen wir in der Schweiz vor komplexen Problemen wie einem Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften, ungelösten Transparenzfragen, weit verbreiteten sozialen Ungleichheiten und einer langsamen Digitalisierung des Gesundheitswesens. Schliesslich stellen die steigenden Krankenversicherungsprämien eine Belastung dar für Haushalte, da der Zugang zur Gesundheitsversorgung oft vom sozioökonomischen Status abhängt.

Eine zentrale Herausforderung für das Schweizer Gesundheitssystem ist das vorherrschende Honorarmodell, bei dem Gesundheitsfachkräfte auf Basis der durchgeführten Behandlungen vergütet werden. Dieses System, obwohl nicht ungerechtfertigt, hat ungewollt Anreize geschaffen, die die Gesundheit der Patienten in den Hintergrund rücken lassen. Häufig wird der Fokus von der Gewährleistung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Patienten auf die Abrechnung von Behandlungen verlagert, von denen viele einen geringen Einfluss auf dem Wohlbefinden der Patienten oder die Verbesserung der Gesundheitsergebnisse haben (PwC, 2020).

Eine mögliche Lösung, um unsere aktuellen Herausforderungen zu bewältigen und die Ziele der Strategie Health2030 (siehe Anhang) zu erreichen, ist die wertorientierte Value Based Healthcare (VBHC). VBHC verschiebt den Fokus von der Quantität auf die Qualität und bietet eine praktikable Alternative zum traditionellen Gesundheitsversorgung-Modell. Doch was bedeutet VBHC und wie kann sie im schweizerischen Kontext umgesetzt werden? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt unserer Diskussion in den folgenden Abschnitten.

Die Lösung: Value-Based Healthcare (VBHC)

Die wertorientierte Gesundheitsversorgung (VBHC) (VitalAire, 2023) hat sich als vielversprechende Lösung für die Herausforderungen unserer Gesundheitssysteme erwiesen. Die Voraussetzung von VBHC ist einfach und dennoch transformativ: Der Erfolg und die Effektivität des Gesundheitssystems werden nicht anhand der Menge oder den Auswirkungen einzelner Verfahren gemessen, sondern am gesundheitlichen Nutzen für die Patienten. Dieses patientenorientierte Modell könnte unseren Ansatz im Gesundheitswesen drastisch verändern, indem es sich für wirksame Verfahren einsetzt, die den grössten gesundheitlichen Nutzen bringen.

VBHC steht für einen Modellwechsel von Volumen zu Wert, von Quantität zu Qualität und von Intervention zu Prävention und Wohlbefinden. Im Wesentlichen handelt es sich um einen proaktiven Ansatz zur Gesundheitsversorgung, im Gegensatz zum oft reaktiven Modell von heute.

Ein weiterer Aspekt von VBHC ist die Betonung der ambulanten Versorgung. Dieser Ansatz zielt darauf ab, Patienten, wo immer möglich, ausserhalb des traditionellen Krankenhausumfelds zu behandeln, sei es in Kliniken oder in der häuslichen Pflege. Ambulante Versorgung ist in der Regel kostengünstiger, was die finanzielle Belastung des Gesundheitssystems reduziert. Neben der Kosteneffizienz bringt die ambulante Versorgung die Patienten näher an ihr tägliches Umfeld heran und verbessert so den Komfort und die Leichtigkeit des Heilungsprozesses. Diese Ausrichtung an den Bedürfnissen und Präferenzen der Patienten unterstreicht das Engagement von VBHC, den Patienten in den Mittelpunkt der Gesundheitsversorgung zu stellen.

Die Rolle von VBHC in der Patientenversorgung

Die Einführung von VBHC hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Patientenversorgung. Die Patienten werden in den Mittelpunkt des Gesundheitssystems gerückt.. Sie werden nicht mehr als passive Empfänger von Pflegeleistungen betrachtet; sie werden zu aktiven Teilnehmern an ihrem Behandlungsprozess. Dies erfordert mehr Verantwortung von ihnen und ermöglicht, eine entscheidende Rolle auf ihrem Weg zur Gesundheit zu spielen.

Diese Veränderung entspricht auch der steigenden Nachfrage nach einer stärkeren Beteiligung der Patienten an ihrer Versorgung. Laut einer Studie von PricewaterhouseCoopers mit dem Titel „The Future of the Care Landscape in Switzerland“ wünschen sich Patienten heute eine aktivere Rolle bei ihren Gesundheitsentscheidungen.

VBHC fördert auch eine umfassende Qualitätsmessung entlang des gesamten Patientenpfads. Dies erfordert die Erfassung und Analyse einer breiten Palette von Qualitätsindikatoren über einen längeren Zeitraum. Darüber hinaus ermöglichen digitale Technologien personalisierte Behandlungen. Instrumente wie das Telemonitoring erleichtern die Datenerfassung und verbessern den Weg des Patienten durch die Gesundheitsversorgung. Die VBHC ermöglicht somit die Integration langfristiger Trends in die Planung zukünftiger Interventionen, insbesondere im Management chronischer Krankheiten, wodurch unnötige Verfahren und Kosten vermieden werden. Gleichzeitig bringt dies neue Herausforderungen mit sich, insbesondere im Hinblick auf die Definition und Messung geeigneter Leistungs- und Qualitätsindikatoren (Key Performance/Quality Indicators, KPIs) und Datenschutzfragen.

 Mögliche Hindernisse und Lösungsansätze auf dem Weg zu VBHC

Die Einführung eines neuen Modells kommt nie ohne Herausforderungen und VBHC bildet da keine Ausnahme. Ein Übergang von einem kostenbasierten Modell zu VBHC ist komplex und erfordert erhebliche Anstrengungen und Zeit.

Eine der grössten Hürden bei der Umsetzung von VBHC liegt in der Messung von KPIs und der Datenverwaltung. VBHC erfordert die Sammlung, Analyse und Verwaltung einer Vielzahl von Patientendaten. Der sichere und ethische Umgang mit diesen Daten ist von grösster Bedeutung. Eine robuste Dateninfrastruktur ist unerlässlich, um die Gesundheitsergebnisse der Patienten im Laufe der Zeit zu verfolgen und die Wirksamkeit verschiedener Behandlungen zu bestimmen. Um dies zu ermöglichen, müssen Gesundheitseinrichtungen in eine sichere und robuste Dateninfrastruktur investieren. Dies ist bereits ein Problem, das wir bei der elektronischen Patientenakte (EPR) sehen (Patientenakte, 2023). Während die EPR bei den Gesetzgebern auf Akzeptanz stösst und für eine effektive Nutzung vorbereitet ist, stösst sie in der Praxis auf erheblichen Widerstand bei den wichtigsten Interessengruppen, einschliesslich Patienten und medizinischem Fachpersonal.

Ein weiteres potenzielles Hindernis ist der Widerstand gegen Veränderungen. Viele im Gesundheitswesen tätige Personen, von der Verwaltung bis zu den Ärzten, haben ihr ganzes Berufsleben nach dem Gebührenmodell gearbeitet. Um sie von der Notwendigkeit eines Wandels zu überzeugen, müssen die Vorteile von VBHC deutlich nachgewiesen werden.

Um diese Hindernisse zu überwinden, ist ein mehrstufiger Ansatz erforderlich. Dazu gehört die Aufklärung aller Beteiligten über die Vorteile von VBHC für unser Gesundheitssystem und die Patienten sowie Investitionen in robuste Datensysteme und die Bereitstellung von Unterstützung während des Übergangs. Politische Entscheidungsträger und die Verantwortlichen im Gesundheitswesen müssen überzeugend darlegen, wie VBHC die Ergebnisse für die Patienten verbessern kann, unnötige Ausgaben reduzieren und die Nachhaltigkeit des Gesundheitssystems sicherstellen kann.

Bewältigung unserer Herausforderungen im Gesundheitswesen

Mehrere Massnahmen könnten das Schweizer Gesundheitssystem revitalisieren, indem sie Ineffizienzen beseitigen und zu einem stärker patientenzentrierten Versorgungsmodell führen. Ein Übergang zu einer einheitlichen Finanzierung sowohl für stationäre als auch ambulante Patientenleistungen könnte die Gesamtkosten minimieren, die Transparenz erhöhen und eine umfassende Sicht auf die Kosten entlang des Patientenpfads fördern. Dies könnte durch die Zusammenführung der verschiedenen Finanzierungsmodelle für ambulante und stationäre Leistungen in ein gemeinsames System, die sogenannte Einheitliche Finanzierung (EFAS), ermöglicht werden, die durch die Weiterleitung eines konstanten Finanzierungsanteils der Kantone an eine gemeinsame Institution unterstützt wird. Derzeit teilen sich die Kantone 55 Prozent der Kosten für stationäre medizinische Behandlungen, während die Krankenversicherer die restlichen 45 Prozent tragen. Bei den ambulanten Kosten tragen die Krankenversicherer hingegen die vollen 100 Prozent, was sich in den Prämien der Versicherten widerspiegelt (FMH, ohne Datum).

Darüber hinaus könnte ein neues Vergütungssystem im Sinne des Value-Based-Healthcare-Ansatzes (VBHC), bei dem die Zahlungen an die Leistungserbringer den messbaren Mehrwert für die Patienten widerspiegeln, ebenfalls zu einer Neuausrichtung des Gesundheitssystems auf eine stärker patientenzentrierte Versorgung beitragen. Schliesslich würde die Einführung einer umfassenden Qualitätsmessung über den gesamten Patientenpfad hinweg die Bewertung sowohl der unmittelbaren, als auch der langfristigen Ergebnisse ermöglichen und für mehr Transparenz in Bezug auf die Qualität und die Kosten der Leistungen sorgen.

Ist VBHC wirklich die Lösung?

Die Umsetzung der wertorientierten Gesundheitsversorgung könnte in der Tat eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der Herausforderungen spielen, mit denen das Schweizer Gesundheitssystem konfrontiert ist. Durch die Fokussierung auf langfristige Gesundheitsergebnisse und eine patientenzentrierte Versorgung zielt VBHC darauf ab, die Ergebnisse für die Patienten zu verbessern, insbesondere für diejenigen mit chronischen Erkrankungen. Durch die Verknüpfung von Kosten und Patientenergebnissen fördert VBHC auch eine effizientere Nutzung der Ressourcen und versucht, unnötige Ausgaben zu vermeiden. VBHC zielt also nicht nur darauf ab, die qualitativ hochwertige Versorgung, für die die Schweiz bekannt ist, aufrechtzuerhalten, sondern auch die Nachhaltigkeit unseres Gesundheitssystems angesichts der aktuellen Herausforderungen zu gewährleisten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die wertorientierte Gesundheitsversorgung eine strategische Chance bietet, das Schweizer Gesundheitssystem neu auszurichten, um den aktuellen Herausforderungen wirksam zu begegnen. Diese Neuausrichtung erfordert jedoch eine kollektive Abstimmung und Harmonisierung zwischen allen wichtigen Akteuren des Gesundheitswesens – politischen Entscheidungsträgern, Leistungserbringern, Versicherungsunternehmen und Patienten gleichermassen. Von zentraler Bedeutung für diese Abstimmung ist die Definition von Leistungsindikatoren, die bei allen Beteiligten auf Resonanz stossen und ein gemeinsames Engagement für diesen innovativen Ansatz. Indem wir uns VBHC zu eigen machen, reagieren wir nicht nur auf die aktuellen Herausforderungen, sondern arbeiten auch auf ein Gesundheitssystem hin, das Gesundheit und Wohlbefinden über alles stellt und wertschätzt.

 

Literatur:

  1. Bundesamt für Gesundheit BAG. (2019). Gesundheitspolitische Strategie 2030. Retrieved from https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/gesundheit-2030/gesundheitspolitische-strategie-2030.html
  2. VitalAire Canada. (2023). What is Value Based Healthcare? Retrieved from https://www.vitalaire.ca/about-us/what-value-based-healthcare
  3. PricewaterhouseCoopers. (2020). Zukunft der Versorgungslandschaft Schweiz. Retrieved from https://www.pwc.ch/de/insights/gesundheitswesen/zukunft-versorgungslandschaft-schweiz-2020.html
  4. eHealth Suisse. (2023). The electronic patient record | Professionals. Retrieved from https://www.patientrecord.ch/professionals
  5. FMH Swiss Medical Association. (n.d.). Einheitliche Finanzierung (EFAS). Retrieved from https://www.fmh.ch/politik-medien/politische-geschaefte/einheitliche-finanzierung.cfm

 

Anhang: Gesundheit2030-Ziele:

  1. Nutzung von Gesundheitsdaten und -technologie;
  2. Stärkung der Gesundheitskompetenz; Sicherstellung der Versorgung und Finanzierung;
  3. Gesundes Altern;
  4. Verbesserung der Qualität der Pflege;
  5. Eindämmung der Kosten und Entlastung von Haushalten mit niedrigem Einkommen;
  6. Förderung der Gesundheit durch die Umwelt;
  7. Förderung der Gesundheit am Arbeitsplatz.